VEB Braunkohlenwerk Harbke bei Helmstedt 1978/79

Der Text und die Fotos wurden freundlicherweise von Reiner Orlowski, Dipl.-Bergingenieur, damals Geotechniker und Hydrologe und später Werksleiter des VEB Braunkohlenwerkes Harbke bei Helmstedt, zur Verfügung gestellt.
Arbeiten und feiern zum Jahreswechsel 1978/79 einmal ganz anders

Dipl.-Bergingenieur Reiner Orlowski Harbke

Am Abend des 8. Dezember 1978 fiel Regen auf den gefrorenen Boden. Sofort verwandelte sich alles in eine spiegelglatte Eisfläche. Im VEB Braunkohlenwerk Harbke stand, wie an anderen Tagen, auch der Schichtwechsel bevor. Die Mittagschicht hatte um 22°° Uhr eigentlich Schichtschluss, musste aber die Geräte und Anlagen weiter bedienen und besetzt halten, weil die Omnibusse, die mit der Belegschaft der Nachtschicht anfahren sollten, nicht pünktlich heran kamen. Der Straßenwinterdienst war nicht darauf vorbereitet und nun nicht Herr der Lage. Nur den erfahrenen und geschickten Busfahrern war es zu verdanken, dass der Schichtwechsel mit einigen Stunden Verzögerung dennoch stattfand. Die Belegschaft der Mittagsschicht konnte endlich die Fahrt in ihre Heimatorte antreten. Langsam und vorsichtig steuerten die Busfahrer zurück, doch nach ca. 4 km, in Sommersdorf, war Schluss, ein Bus stand quer und sperrte die gesamte Straßenbreite. Niemand kam vorbei und Hilfe für eine Bereinigung der Situation war nicht in Sicht.

Zwei Frauen aus Sommersdorf erkannten die Situation, in der sich die übernächtigten Kollegen der Mittagsschicht nun befanden und öffneten trotz der sehr frühen Morgenstunden die Gaststätte und versorgten die Menschen mit Speisen und warmen Getränken, bis eine Weiterfahrt möglich war.

Tage später fiel ca. 7 cm Schnee, der bei mäßigem Frost auch liegen blieb. Um und nach Weihnachten taute der sehr schnell weg. Die bis dahin zusätzlichen eingesetzten Hilfskräfte wurden nur noch begrenzt für die Stabilisierung der durch das Tauwetter instabil gewordenen Gleise benötigt. Bei frühlingshaftem Wetter entspannte sich die bis dahin angestrengte Lage im Tagebau.

Am 31. Dezember schlug dann der Winter erneut, aber diesmal richtig zu. Früh herrschte noch offenes Wetter mit Temperaturen um +10° C. Die meisten Menschen bereiteten sich auf einen ruhigen Jahreswechsel vor. Am späten Vormittag jedoch begann die Temperatur in Harbke unvermittelt stark zu fallen. Der zuerst einsetzende Regen ging in Schnee über. Der diensthabende Mitarbeiter der Betriebsleitung begab sich vor Ort. Auch die für den Winterdienst eingeteilten Mitarbeiter im Ort Harbke wurden zu Hause in Alarmbereitschaft gesetzt. Durch die, am 28.12.1979 einsetzende, sich extrem verschlechternde Wetterlage im Norden der Republik, war das Fernsehen der DDR alarmiert und strahlte in kürzeren Abständen als sonst üblich Wetterberichte aus. Die Wetterkarten zeigten eine rasch von Norden heranziehende Unwetterfront an. Wetterwarnungen wurden für den vor der Wetterfront südlich liegenden Teil der DDR herausgegeben.

Kurz vor dem Schichtwechsel gegen 13°° Uhr setzte starker Schneefall begleitet von einem heftigen Sturm ein. Die Temperatur sank binnen kurzer Zeit auf -12 bis -15° C. Die Wetterfront hatte das Werk und den Tagebau in Harbke vollständig erreicht. Die ortsansässigen Kräfte des Winterdienstes wurden vor Ort beordert und die Tagebaubelegschaft der Frühschicht veranlasst an ihren Arbeitplätzen zu bleiben. Sie wurden durch Kräfte der noch angefahrenen Mittagschicht verstärkt. Auf den Straßen herrschten bereits chaotische Zustände. Der Straßenwinterdienst hatte überhaupt keine Chance, die wichtigen Straßen freizuhalten. Ein neuralgischer Punkt war eine Anhöhe beim Ort Barneberg, über die führte die Fernverkehrstraße 245a. Schneeverwehungen bis 3 m Höhe versperrten den Weg und ließen sich im Schneesturm nicht beseitigen.

Das Braunkohlenwerk Harbke war der am weitesten im Norden gelegene Tagebau der DDR und gehörte in dieser Zeit als Betriebsteil dem Werk in Röblingen/See, das wiederum dem Braunkohlenkombinat Bitterfeld unterstellt war, an. Diese beide Betriebe lagen 90 bis 100 km weiter südlich, in der Nähe der Städte Eisleben bzw. Halle/Saale. Eine Leitstelle des Kombinates überwachte die Produktion aller Betriebsteile und nahm zu Schichtende über eine Standleitung zwischen den Betrieben die Produktionsergebnisse und Lageberichte entgegen.

Als der Chefdienst aus Harbke zum Ende der Frühschicht über den Wintereinbruch und über die aktivierten Einsatzkräfte Bericht erstattete, hielt man das in Röblingen und Bitterfeld für eine maßlose Übertreibung und meinte die getroffenen Maßnahmen wären stark überzogen, denn die Wetterfront war da noch nicht angekommen. In den dortigen Betrieben waren wegen der bevorstehenden Feiertage zum Jahreswechsels nur die Mindestbesetzung vor Ort. Vier Stunden später, als der Schnee, der Frost und der Sturm auch diese Region erreichte standen sie vor der gleichen Situation. Mittlerweile war es 18°° Uhr geworden und die meisten Einsatzkräfte, die man aktivieren wollte, gaben an, schon in Feierlaune, alkoholisiert und nicht mehr einsatztauglich zu sein.

Der Wintereinbruch hatte aber schon zuvor die Lausitz erreicht und die Großkraftwerke konnten nicht mehr ausreichend versorgt werden. Der anfängliche Regen und der plötzliche Frost hatten die Oberleitungen der Kohlebahnen mit einem Eismantel umgeben. Das löste eine Kettenreaktion aus. Die Züge zue Versorgung der Kraftwerke bleiben stehen, Schneeverwehungen blockierten streckenweise die Fernbahnen. Wegen des hohen Wassergehaltes der Kohle fror dieselbe trotz der installierten Kohlenwagenheizung an den Entladeklappen fest. Die Wagen der Züge, die noch die Kraftwerksbunker erreichten, ließen sich nicht öffnen und wo dies dennoch gelang, rutschte die Kohle nicht aus den Selbstentladewagen in die Bunker. Zum Entladen wären Kräfte vor Ort notwendig gewesen, die ließen sich jedoch nur mit großer Verzögerung und nicht in ausreichender Zahl heranschaffen. Die Großkraftwerke waren auf eine kontinuierliche Zufuhr von Kohle angewiesen, denn die Bunkerinhalte konnten längere Förderpausen nicht überbrücken. Wegen Kohlemangel musste ziemlich schnell Kraftwerksleistung abgeboten werden. Passiert das aber unplanmäßig und plötzlich wirkt sich das auf das gesamte Hochspannungs-Verbundnetz aus. Wird ein Generator mit hoher Leistung kurzfristig abgefahren, sinkt die Frequenz von 50 Hertz im gesamten Stromnetz. Die kann im Normalfall kompensiert werden. Sinkt sie jedoch unter 47,5 Hz ab, trennt eine spezielle Schaltung die davon betroffenen noch laufenden Generatoren automatisch vom Netz, um sie vor Schäden oder gar Zerstörungen zu bewahren. Das hatte die Flächenabschaltungen im gesamten Stromnetz verursacht und zur Fortsetzung der Kettenreaktion mit Auswirkungen bis in die Haushalte geführt.

Die rechtzeitig eingeleiteten Maßnahmen zu Beherrschung dieser außergewöhnlichen Wetterlage zahlten sich im VEB Braunkohlenwerk Harbke aus. Die Versorgung des Kraftwerkes Harbke aus dem Tagebau bekam absoluten Vorrang, damit es mit voller Leistung fahren konnte. In Vorbereitung auf die Feiertage waren schon alle Kohlenzüge gefüllt worden, sodass auf eine erste Reserve zurückgegriffen werden konnte. Jetzt wurde der Betrieb ausschließlich auf die Fördergeräte und Gleisanlagen für den Abbau und den Transport der Kohle zum Kraftwerk ausgerichtet. Die Gewinnungsgeräte und die kritischen Stellen an den Gleisanlagen wurden mit den Einsatzkräften verstärkt und rund um die Uhr besetzt. Auch wurde Personal zur Beseitigung eventuell auftretender Störungen sowie für die Versorgung der Einsatzkräfte mit Speisen und Heißgetränken zusätzlich organisiert. Eine E-Lok ohne Wagenzug fuhr ständig auf den Verbindungsgleisen zum Kraftwerk und zur Brikettfabrik Völpke auf und ab, um die Strecken von Schneeverwehungen frei zu halten. Der sich Anfangs an der Oberleitung bildende Eisbehang wurde mit Lichtbögen, die während der Fahrt durch periodisches Abziehen der Stromabnehmer von der Fahrleitung bewusst erzeugt wurden, zum Schmelzen gebracht. Sicher keine, die Leitung und Fahrmotoren schonende Methode, aber eine doch sehr wirksame. Auch kam ein zur Gleisfreihaltung umgebautes Triebwerk eines MIG-Düsenjägers zum Einsatz, um den Schnee von den Gleisen zu entfernen. Dabei konnte man keine Rücksicht darauf nehmen, dass auch Schottersteine aus dem Gleisbett mit weggefegt wurden. Durch die Umverteilung der Kohleversorgung zum Kraftwerk fehlten allerdings der Brikettfabrik Völpke schließlich am 31.12.78 440 t und am 01.01.79 nochmals 320 t an der Brikettproduktion.

Das Kraftwerk Harbke war so ziemlich das einzige, dass in der Zeit, als es am kritischsten war, ununterbrochen mit voller Leistung fuhr. Dadurch waren die Auswirkungen für das Versorgungsgebiet um Magdeburg nicht ganz so gravierend wie in anderen Gebieten der DDR. Insbesondere konnte die Förderung aus den Erdgassonden in der Altmark aufrecht erhalten werden, die das Gas für die Wärmeversorgung der Stadt Magdeburg lieferten. Wäre das Kraftwerk Harbke in die Knie gegangen, wäre auch die Kohleförderung aus dem Tagebau Harbke zum Erliegen gekommen und hätte einen Teufelskreis in Gang gesetzt.

Dass es dennoch bei den republikweiten Flächenabschaltungen in Harbke zu Stromausfällen kam, ist dem Umstand zuzuschreiben, dass das Kraftwerk Harbke in das Verbundnetz eingebunden war, und durch die Unterschreitung der Frequenz auch die Generatoren zeitweise geschützt werden mussten. Auch waren Pausen bei den notwendigen Umschaltungen im Landesnetz nicht zu umgehen.

Die Silvesterfeiern standen im Zeichen von Kerzenlicht. Schon in der Vorbereitungsphase war am 31.12.1978 von 17:55 bis 18:38 Uhr das erste Mal der Strom weg. Auch vollzog sich der Jahreswechsel bei der Feier im voll besetzten Kulturhaus von 23:24 bis 01:15 Uhr bei Kerzenschein. Die Band spielte live ohne Mikrofon und Verstärker zum Tanz, ein Sound, der schon seit viele Jahre nicht mehr gehört wurde. Zum Frühstück am Neujahrsmorgen von 06:55 bis 08:15 Uhr kein Strom und auch am Abend von 18:48 bis 19:23 Uhr war der Strom weg und somit auch Beleuchtung, Radio, TV, Tauchsieder, E-Herd, Kaffeemaschine ohne Funktion. In Summe waren das 4 Stunden und 59 Minuten, in denen man sich über die Abhängigkeit des menschlichen Daseins von der elektrischen Energie ernsthaft Gedanken machen konnte.


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